Fühlst du gar nichts?
von Campus Crew Redaktion am 21.10.2024
Aufruhr im Indie-Scheinwerferlicht: Melancholisch verspielt durchbricht Ennio mit seinem zweiten Album „Schlaraffenland“ die musikalische Funkstille. Im Mittelpunkt steht die ambivalente Liebe. Doch eigentlich sehnt sich der Künstler nur nach kindlicher Leichtigkeit. Ein innerer Konflikt im Paradies? Willkommen in seinem Schlaraffenland!
von Kristin Sauter
Wie die maskierte Identität von Rapper Cro wirkt auch Ennios Karriereweg auf den ersten Blick undurchsichtig. Die musikalischen Wurzeln reichen weit zurück. Sein Opa finanzierte ihm Gitarrenunterricht und brachte somit den ersten Stein ins Rollen. Schon bald versuchte er sich an eigener Indie-Musik, die er unter dem Alias „Emotional Club“ veröffentlichte. Knapp drei Jahre später wechselte der Münchner Künstler in den deutschsprachigen Raum. Dabei trat er fortan unter seinem bürgerlichen Namen „Ennio“ auf. Vor allem akustische Melodien prägten seinen Identitätswandel. Als Support-Act für Bands wie Jeremias, Provinz und Majan konnte er rasch mit seiner markanten, tief-rauen Stimme überzeugen. Um sich in der Indie-Szene zu beweisen, publizierte er 2022 seine erste EP „stundenull“. Darauf folgte sein Debütalbum „Nirvana“. Lieder wie „Kippe“ oder „Rimini“ begeisterten viele Fans. Eine ausverkaufte Tour, diverse Festivalauftritte und der Gewinn des New Musik Awards machten ihn zum jungen Indie-Wunder. Um die Wartezeit auf sein zweites Album zu versüßen, veröffentlichte er schon vorab sechs der 16 Songs. Nach zweijähriger Detailarbeit erschien schließlich am 20. September 2024 sein Album „Schlaraffenland“.
Same Ride, New Vibe
Sowohl Ennios Debütalbum „Nirvana“ als auch sein neuer Albumtitel „Schlaraffenland“ kreieren eine offene Ortsbezeichnung. Diese narrative Brücke zwischen beiden Alben lässt Vorstellungen entspringen, die frei für Interpretationen sind. Viele Menschen verbinden das Schlaraffenland mit einem Ort, an dem sie sorglos träumen und schlemmen können, bis der Bauch schmerzt. Anders dagegen ist es in Ennios Schlaraffenland, welches aktiv selbst erschaffen werden muss. Zeit zum Faulenzen gibt es nicht. Mit den Zeilen „Komm, nimm meine Hand, ich bau‘ uns ein Schlaraffenland“ lädt der Künstler in seinem gleichnamigen Titellied zur gemeinsamen Reise ein. Die damit einhergehende Selbstbestimmung legt zunächst einen trüben Schleier über den Ort. Nur wem es gelingt, mit dem Unbehagen an der Hand voranzuschreiten, kann sein eigenes Schlaraffenland gestalten.
Zwischen nachdenklich und tanzbar
Die 16 Lieder decken vielfältige Musikrichtungen ab: Von Indie, Pop, Hip-Hop bis zu facettenreichen elektronischen und akustischen Tönen. Den Grundriss bilden eingängige Melodien mit emotionalen Texten. Die Zeilen umkreisen Gefühle über innere Zerrissenheit, nostalgische Erinnerungen und verzerrte Illusionen. Die Hoffnung stirbt im Album zuletzt.
Das Lied „Strategie“ eröffnet Ennios Platte mit einem lauten Knall: Treibende Indie-Drums und fetzige Gitarrenriffs lassen eine euphorische Stimmung entstehen. Die spontane Feierlaune mischt den tristen Arbeitsalltag auf und leitet zur unbeschwerten Ekstase über. Unverblümten Kontrast liefert das trostlose Lied „Mein armes Herz“. Akustische Gitarrentöne begleiten die aussichtslose Identitätssuche und die eigene Entfremdung.
„Utopie“ verzaubert die Hörer mit träumerischen und springenden Synthesizern, die zum Gesang über verzerrte und idealisierte Vorstellungen passen. Die unbeschwerte Stimmung lässt sich auch im Lied „Jungs“ wiederfinden. Die süße Melancholie vergangener Fußballabende und Billigwein vor dem Club verdecken die Angst vor dem Älterwerden. Akustische Gitarren rahmen den verblassenden jugendlichen Leichtsinn ein.
Wer den 80er-Flair feiert, hat mit dem anschließenden Lied „Blitzlicht“ einen Volltreffer gemacht. Breite Synthesizer verschlingen Zeilen über das unkontrollierbare Chaos im Leben. Übrig bleiben Partybesuche, welche als Flucht vor der inneren Zerrissenheit dienen. Das Wechselspiel zwischen Licht und Dunkelheit verbindet die tanzbaren und melancholischen Klänge.
Strudel der Gefühle
Nun folgt ein hinreißendes Gedankenchaos. In „Er kann sich nicht wehren“ begleiten elektronische Gitarren und pfeifende Klänge die verstrickte emotionale Abhängigkeit in einer Beziehung. Der laute Wunsch nach innerer Ruhe überlagert die restlichen Zeilen. „Rettung“ bringt mit rhythmischen Indie-Elementen sowie Pop- und Disco-Beats quälende Gefühle an die Oberfläche. Die fehlende Balance von Nähe und Distanz wird durch die mangelnde Fernkommunikation entschuldigt. Mit „Geheimnis“ folgt die turbulente Steigerung der Beziehung, die von unausgesprochenen Emotionen und Lügen überrannt wird. Verzerrte Gitarrenklänge unterstreichen die ambivalente Gefühlslage in Zeilen wie „Denkst ich renn‘ dir hinterher, Baby, warum lieb‘ ich dich so sehr?“.
Das Lied „Palmen“ verbindet die anschließende Suche nach Klarheit mit verschiedenen Streichinstrumenten. Dramatische Klaviertöne tragen unsichere Gedankenkreise über die fragile Beziehung voran. „Angst“ beendet das Chaos und ermutigt die Hörer dazu, vergangene Erfahrungen hinter sich zu lassen und Herausforderungen anzugehen. Pulsierende Synthesizer fokussieren den neugewonnenen Optimismus.
Die beiden Klavierballaden „Allein“ und „Die Erde dreht sich (ohne mich)“ bilden den gefühlvollen Höhepunkt des Albums. Langsames Tempo und dominante Klavierbegleitungen schaffen eine intime Atmosphäre. Zeilen über emotionale Zerbrechlichkeit regen den Hörer zum Mitfühlen an. Beide Lieder umschließen die toxischen Seiten einer Beziehung, die von seelischer Abhängigkeit geprägt ist. In „Allein“ überragen die Gefühle der beständigen Einsamkeit trotz mühevoller Ablenkungen. Was bleibt, ist der tiefe Wunsch nach Zweisamkeit. „Die Erde dreht sich (ohne mich)“ betont das emotionale Feststecken im Moment. Der Künstler blickt ängstlich auf einen möglichen Kontaktabbruch und wünscht sich, dass die Zeit stehen bleibt. Das Lied knüpft an die letzte Zeile „Geh ich noch mit dir oder allein?“ aus Ennios „Kippe“ an und verleiht der Klavier-Ballade eine reflektierende Dynamik.
Rhythmus-Reset à la Rap
Mit einem Beat-Wechsel bricht der Künstler aus bekannten Mustern aus. Wie in der Rap-Szene üblich, vereint Ennio in „Rotwein“ zwei unterschiedliche Indie-Melodien zu einem Lied. Dabei wandelt sich die gefühlvolle und prägnante Stimmakustik zu minimalen Gitarrenklängen mit sanftem Gesang. Das träumerische Liebesgeständnis endet mit unerwünschten Erinnerungen und dem Lösen von verzerrten Illusionen. Die Frage „Gibt es eine Sache vor der du mich noch warnen musst?“ schließt die träumerischen Ideale ab und führt in die Realität zurück. Durch das Zusammenfügen beider Lieder erzeugen sie eine stärkere Dynamik, die ihnen einzeln gefehlt hätte.
Starke Features, starker Sound
Das Lied „Zeit“ gehört zu den sechs Liedern, die vorab veröffentlicht wurden. Zu erwarten war das Feature mit Rin trotzdem nicht, da der Künstler zwei Versionen publizierte. Die erste Strophe und der Refrain bleiben gleich und heben Ennios Wunsch nach zeitlicher Kontrolle mit elektronischen Gitarrentönen hervor. Eine nachgelieferte Strophe von Rin vertieft die melancholische Stimmung und verdeutlicht die starke Sehnsucht nach Veränderung.
Als Überraschung entpuppte sich dagegen die Zusammenarbeit in „Fühlst du gar nichts“ mit Nina Chuba. Stimmige Synthesizer lassen die vergebliche Suche nach vergangenen Gefühlen schwebend miterleben. Durch das harmonische Zusammenspiel der beiden Künstler rücken die Zeilen „Denn ich fühl‘ gar nichts, fühlst du gar nichts? über innere Leere in den Vordergrund.
Paradiesische Klänge
Ennio überzeugt mit 16 melancholischen Liedern, die nicht nur nach Lust und Laune konzipiert wurden. Seine musikalische Reise in „Schlaraffenland“ ist ausgeklügelter als je zuvor und integriert auch clubbigere und housigere Rhythmen. In 44 Minuten erzeugt der Künstler ein Wechselbad aus Emotionen, das dennoch einem roten Faden folgt. Die Lieder regen zum Mitfühlen an und schaffen Nähe zum großen, ungeplanten und gefühlvollen Chaos im Leben. Besonders vermitteln sie eines: Fühlen ist ein Gewinn. Die Zusammenarbeit mit Rin und Nina Chuba bilden die Kirsche auf der Sahnetorte und tragen zur wohlverdienten Aufregung in der Indie-Szene bei. Das neue Album treibt den aufstrebenden Künstler in seiner musikalischen Karriere voran und stellt einen großen Fortschritt zu seinem einfacheren Debütalbum „Nirvana“ dar. Er hat seinen festen Platz auf der Bühne gefunden und wird auf seiner kommenden Tour mit rotzigen Klängen viele Indie-Fans begeistern können.