WM in Katar – Boykott Ja oder Nein?

von am 01.12.2022

von Jonas Weidemann

„Ja, es ist haram. Es ist ein geistiger Schaden.“

Mit „Es“ ist das Schwulsein gemeint. Was in ähnlicher Form auch in den 50ern zur „Wahrung der Sitten“ hätte proklamiert werden können, stammt aus dem Jahr 2022 von Khalid Salman, einem ehemaligen katarischen Fußballer und Botschafter der im gleichen Jahr stattfindenden Fußball-WM. Fußball-Weltmeisterschaft – ein Lebensgefühl, bei dem sich Fans kollektiv in den Armen lagen oder in kollektives Weinen verfielen, egal ob arm oder reich, egal welche Ethnie, egal welche Religion, egal welche Sexualität jemand hatte, jeder war in diesem Kollektiv willkommen. Das waren die Werte, für die dieses nur alle vier Jahre stattfindende Turnier stand. Werte, die diese Zeit erst so besonders machten. Werte, die in Katar mit Füßen getreten werden.

Bevor wir uns aber mit den ganzen Irrsinnigkeiten der WM auseinandersetzen, stellen wir uns erst einmal die Frage, warum Katar überhaupt eine Weltmeisterschaft austragen möchte. Katar hat noch nie an einer WM teilgenommen, da sie sich nie qualifiziert und bis auf den Gewinn der Asienmeisterschaften 2019, dem Pendant zur Europameisterschaft, nie etwas Nennenswertes erreicht haben. Zu dem Gewinn der Asienmeisterschaften sei erwähnt, dass keiner der 23 nominierten Spieler ein „voller“ katarischer Staatsbürger war, also kein „echter“ Katari daran teilnahm. Warum also sollte man sich als Staat so viel Mühe geben, ein Turnier in einem Sport auszutragen, der keine kulturelle und sportliche Verbundenheit mit dem Emirat hat? Warum konzentriert man sich nicht auf Sportarten, die in Katar verbreitet sind? Die Antwort lautet: Soft Power. Soft Power bedeutet, dass man seine Ziele als politischer Akteur ohne wirtschaftliche Anreize oder militärische Bedrohung, sondern durch Sport- oder andere kulturell relevante Ereignisse erreicht. Katar erhofft sich durch das Sponsoring des FC Bayern München, das Einkaufen in Fußballvereine wie Paris-Saint-Germain oder eben durch das Austragen einer Weltmeisterschaft massiven Image-Gewinn. Die politische Lage in Katar ist kritisch. Man wird seit einigen Jahren von einer Koalition arabischer Staaten boykottiert. Dazu zählen unter anderem Saudi-Arabien und Ägypten. Man muss sich als Emirat also anderweitig um Imagepflege bemühen. Was ist dafür besser geeignet als sich in den beliebtesten Sport der Welt einzukaufen? Einkaufen ist hier wörtlich zu nehmen. Katar hat sich in mehrere Vereine eingekauft und auch die Weltmeisterschaftsvergabe lief salopp gesagt unsauber.

Die unfaire Vergabe

Im Dezember 2010 bekam Katar den Zuschlag und setzte sich dabei deutlich gegen die USA, Südkorea, Japan und Australien durch. Man gewann in der vierten Wahlrunde mit 14 von 24 Stimmen. Erste Vorwürfe kamen wenige Tage nach der Vergabe auf. Damals standen zwei Exekutivmitglieder im Verdacht, 59 Millionen Euro aus Katar erhalten zu haben. Aus heutiger Sicht wäre man wahrscheinlich froh, wenn „nur“ zwei Mitglieder korrupt gewesen wären. Heute weiß man, dass mindestens vier Wahlmänner durch direkte Zahlungen bestochen wurden. Allerdings steht außer Frage, dass Katar sich durch geschickte Tricksereien weitere Stimmen gesichert hat. So stieg der Sohn des ehemaligen UEFA-Präsidenten, Michel Platini, kurz nach Platinis Frankreich-Stimme für Katar zum Europachef der Qatar Sports Investments auf. Daneben erreichte das zypriotische Rohstoffunternehmen Petrolina, das Zyperns Exko-Mitglied Marios Lefkaritis gehört, durch Geschäfte mit Katar während der Zeit der Geschäftsvergabe seinen Höhepunkt. Diese waren bei Weitem nicht die einzigen Stimmenkäufe, alle zu erwähnen würde den Rahmen des Artikels sprengen. Zur Verteidigung Katars muss man allerdings erwähnen, dass das Kaufen einer WM bei der FIFA Tradition hat, wenn man nur an das Sommermärchen 2006 in Deutschland denkt.

Public Viewing trifft Après-Ski

Der Fakt allein, dass man sich eine WM erkauft, ist also nichts Besonderes. Besonders wird es, wenn man bedenkt, dass schon bei der Abgabe der Bewerbung klar war, dass diese WM nicht im Sommer stattfinden könnte, obwohl die Ausschreibung explizit eine WM im Sommer vorsah – so wie jedes Mal. Dementsprechend antwortete Sepp Blatter, der während der WM-Vergabe amtierende FIFA-Präsident, im ZDF-Interview auf die Frage, warum die Bewerbung zugelassen wurde, obwohl die FIFA-Berichte gesagt hätten, dass man dort im Sommer keinen Fußball spielen könne, damit, dass er nicht daran glaubte, dass sie gewinnen würden. Dieser Satz stellt die Absurdität der Vergabe nochmal in ein völlig anderes Licht. Anscheinend hat man es nicht nur nie hinterfragt, eine WM in einem Land auszutragen, an dessen Wahl niemand geglaubt hat, sondern war man auch bereit, die WM in den Winter zu verschieben. Fans schauen das Spektakel also nun in dickster Wintermontur mit Glühwein oder Punsch, anstatt mit sommerlichem Outfit beim Grillen oder beim Public Viewing mit einem Bier in der Hand. Apropos Bier: 2014 wurde Brasilien, das alkoholbezogen ähnliche Gesetze wie Katar hat, gezwungen, Bier auszuschenken. Heute hingegen scheint es in Ordnung zu sein, eine Abmachung, die das Ausschenken von Bier vor und nach Spielen vorsah, kurz vorher und ohne öffentliche Absprache komplett zu beenden.

Hauptberuf Fan – Nebenberuf Advocatus Diaboli

Wenn man den Bildern, die vor der WM veröffentlicht wurden, Glauben schenkt, sind trotzdem viele Fans in Katar und feuern ihre Mannschaft an. Das muss doch wenigstens echt sein. Katar würde doch niemals Fans kaufen – oder etwa doch? Das bestätigte jedenfalls das Supreme Committee der Deutschen Welle. Es wurden ca. 1.600 „passionierte Fußballfans“ weltweit angeworben, um Stimmung zu machen, aber auch, um die WM via Social Media zu unterstützen. Dabei soll der Hashtag #LAMAFAN und der Kanal Roadto2022 erwähnt werden. Es werden also „Fans“ dafür bezahlt, positive Stimmung zu machen und im Gegenzug potenziell kritische Aussagen zu unterlassen. Dies ist vertraglich so festgelegt, dass Katar von den Fans verlangen könnte, Posts zu löschen. Im Gegenzug dazu erhält man das Flugticket, das Hotel, eine Eintrittskarte für das Eröffnungsspiel und tägliches Essensgeld. Man hat nun also eine gekaufte WM und gekaufte Fans. Jetzt fehlen nur noch Stadien. Diese sind nicht nur extra für die WM gebaut worden, was an Südafrika 2010 und Brasilien 2014 erinnert, sondern auch unter sklavenähnlichen Zuständen.

I wanna be your slave

Laut Recherchen der britischen Zeitung „The Guardian“ sind 6.751 Menschen auf den Baustellen gestorben. Bei dieser Zahl gilt zu bedenken, dass diese 6.751 Menschen nur aus Indien, Nepal, Pakistan, Bangladesch und Sri Lanka kamen. Andere Länder wurden also nicht beleuchtet, dementsprechend kann man von einer höheren Dunkelziffer ausgehen. Aber was genau ist eigentlich so schlimm an den dort herrschenden Arbeitsbedingungen? Als erstes muss man, um dort überhaupt arbeiten zu dürfen, eine Vermittlungsgebühr von 1.000 € zahlen. Kann man diese 1.000 € nicht zahlen, verschuldet man sich bei seinen Arbeitgebern und arbeitet die ersten Monate mit Zinsen, um diese Schulden zurückzuzahlen. Nachdem man dann als Arbeitskraft registriert wurde, unterliegt man dem sogenannten „Kafala“-System. Das befähigt den Arbeitgeber dazu, über die Pässe der Arbeiter zu bestimmen. Damit wird man zu nichts anderem als einem Zwangsarbeiter. Für 14,5 Stunden harte Arbeit täglich bekommt man, wenn man Glück hat, 300 € pro Monat. Untergebracht waren die Arbeiter in Zimmern, welche sie sich mit bis zu 25 Personen teilen mussten. Die Hygiene vor Ort war dementsprechend katastrophal. Offiziell wurde eine sogenannte „Arbeits-Charta“ ausformuliert, welche man unter anderem mit Amnesty International oder der Human Rights Watch beschlossen haben will. Von so einer Charta hat man bei den genannten Organisationen aber niemals etwas gehört. Es existiert lediglich ein wertloses Papier der „Qatar Foundation“, welche Arbeitszeiten, Transport, Urlaub und alles andere, was für uns selbstverständlich ist, regelt. Dieses Papier jedoch wurde vom Emir, dem die Stiftung gehört, niemals zum Gesetz erlassen, denn sonst hätte man sich als Arbeitgeber bzw. Sklaventreiber daran halten müssen und die Fristen für die WM 2022 hätten niemals eingehalten werden können. Einen positiven Aspekt hat die Ausbeutung der Gastarbeiter allerdings. Man kurbelt die Wirtschaft in Nepal an, da es inzwischen Unternehmen gibt, die die Särge der Toten an nepalesischen Flughäfen abholen und zu den Familien bringen. An der Stelle bleibt mir nichts anderes übrig, als dem Emirat zum Triple der Abscheulichkeit zu gratulieren.

So viel zu den Vorbereitungen der WM. Während ich diesen Artikel schreibe, ist ein walisischer Kommentator nicht ins Stadion gelassen worden, da er ein T-Shirt mit einem Fußball umringt von einem Regenbogen trug. Die belgische Nationalmannschaft muss den Schriftzug „Love“ von ihrem Auswärtstrikot entfernen. Deutschland, England und sieben andere Nationen sind vor der FIFA eingeknickt und werden doch keine One-Love-Binde tragen, da sie keine gelbe Karte bzw. bei Wiederholung des Tragens eine Disqualifikation riskieren wollen. Diese Zensuren werden nicht die Letzten gewesen sein und es wird spannend sein zu sehen, ob und wie die FIFA und Katar den Bogen überspannen.

Boykott – Ja oder Nein?

Wenn man sich nun diese ganzen Fakten ansieht, stellt sich eigentlich nur noch eine Frage: Darf man diese WM schauen? Grundsätzlich ist jeder frei in der Entscheidung, ob er die WM schaut oder nicht. Man darf sich aber als Konsument nicht wundern, wenn man als Fan von der FIFA nur noch als jemand betrachtet wird, dem es egal ist, was die FIFA macht, solange der Ball rollt. Fußball war immer politisch und ist es aktuell mehr denn je. Jede gesehene Sekunde Profi-Fußball ist verbunden mit einem politischen Statement und bei der diesjährigen WM mit der Akzeptanz von Menschenrechtsverletzungen. Man darf dies allerdings nicht mit einer grundlegenden Ablehnung einer WM-Vergabe an Katar verwechseln. Katar dürfte natürlich ohne kulturelle Vergangenheit zum Fußball eine WM austragen, wenn man grundlegende und eigentlich selbstverständliche Werte nicht mit Füßen tritt und schon gar nicht Menschenleben opfert. Und da reicht es auch nicht, sich sein Gewissen zu bereinigen, indem man sagt, dass Katar eine andere Kultur hat. Denn Homophobie, Unterdrückung der Pressefreiheit und das Verstoßen gegen Menschenrechte, sind keine Kultur. Sobald wir das ansatzweise akzeptieren, wird ein Unrechtsstaat wie Katar weiter legitimiert und damit einhergehend auch Taten und Werte, die mit der UN-Charta unvereinbar sind.


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