Die Mobilisierung einer Nation

von am 30.05.2025

Vergangenen Sonntag wurde in Rumänien ein neuer Präsident gewählt. Nachdem im November des letzten Jahres die Wahl aufgrund von Vorwürfen russischer Einmischung annulliert wurde, hat der pro-europäische Nicușor Dan gegen den russlandfreundlichen, rechtspopulistischen George Simion mit knapp 54 Prozent der Stimmen gewonnen.

Von Antonia Aturcanitei

Es ist 23:01 Uhr an einem Sonntag. Ich bin müde vom Wochenende und vom Lernen, und liege eigentlich schon im Bett, doch ich kann nicht schlafen. Ich schaue immer wieder auf mein Handy, ob es denn schon klar ist, wer gewonnen hat. Denn es ist kein Sonntag wie jeder andere. Heute wurde in meinem Heimatland Rumänien ein neuer Präsident gewählt. Obwohl ich seit zwölf Jahren nicht mehr dort lebe, hatte ich noch nie so Angst wie heute. Denn es wird entschieden, in welche Richtung Rumänien geht – wird es weiterhin auf dem Weg einer geeinten Europäischen Union bleiben oder driftet es nach rechts? Diese Wahl ist deswegen so besonders, weil es sich um eine Wiederholung handelt. Die ursprüngliche Wahl fand im November 2024 statt. Nachdem der unabhängige Kandidat Călin Georgescu mit 41 Prozent der Stimmen überraschend gewonnen hatte, annullierte der rumänische Gerichtshof die im Dezember geplante Stichwahl. Grund dafür waren Vorwürfe russischer Einmischung in den Wahlprozess – insbesondere auf TikTok – sowie illegale Wahlkampffinanzierung. Georgescu wurde außerdem von den neuangesetzten Wahlen ausgeschlossen. Er gilt als extrem nationalistisch und religiös. 2022 wurde ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet – wegen der Glorifizierung von zwei Verantwortlichen des Holocausts, Ion Antonescu und Corneliu Zelea Codreanu. Beide gehörten der rumänischen Legionärsbewegung an, einer faschistischen Bewegung, die sich unter anderem durch Antisemitismus, orthodoxen Fundamentalismus und rumänischen Ultranationalismus kennzeichnete. Georgescu hatte diese historischen Figuren als „Helden der Nation“ bezeichnet.

Ein halbes Jahr später ist Rumänien immer noch gespalten. Nur weil der Kandidat nicht mehr zur Wahl steht, verschwinden nicht die rund 2,1 Millionen Menschen, die ihn gewählt hatten. George Simion, der Vorsitzende der Partei Alianța pentru Unirea Românilor (AUR), erreichte bei der Wahl im November den vierten Platz. Seine Partei steht für konservative Werte, nationale Souveränität und die Vereinigung Rumäniens mit der Republik Moldau. Nachdem die Wahl annulliert und der Favorit aus dem Rennen war, konnte Simion wieder kandidieren und viele der Wähler:innen, die für Călin Georgescu gestimmt hatten, für sich gewinnen. In seinem Wahlkampf versprach er unter anderem, nach seinem Sieg den Premierministerposten an Georgescu zu vergeben.

George Simion hat sein Selbstbild als Außenseiter, der die Eliten herausfordert, kultiviert und sich für eine Rückkehr zu traditionellen Werten ausgesprochen. Neben seiner EU-skeptischen Haltung versprach er eine Politik „gegen das System“, unter anderem durch Steuersenkungen, einen Abbau des öffentlichen Sektors und eine Pensionsreform zugunsten der Arbeiterklasse. Er ist auch bekannt für seine aggressive Kommunikationsweise. So hat er beispielsweise in einer Parlamentssitzung im Dezember 2023 der Senatorin und EU-Parlamentsabgeordneten Diana Șoșoacă sexuelle Gewalt angedroht und seinen Kontrakandidaten Nicușor Dan im Rahmen des Wahlkampfs als Autisten bezeichnet („Autistisch, der Arme“). Warum wählt fast die Hälfte der Bevölkerung einen Mann, der solche Aussagen trifft? Der öffentlich zeigt, wie wenig er von Frauen und von Menschen mit Behinderung hält? Der bei den geplanten Fernsehdebatten mit seinem Kontrahenten nicht erschienen ist und eine Gruppe an Journalist:innen heimlich filmte, um ihnen vorzuwerfen, sie würden eine Berichterstattung zugunsten Nicușors durchführen?

Ein Land am Rande der EU

Rumänien ist 2007 der EU beigetreten und ist sowohl im übertragenen als auch im geografischen Sinne am Rande der EU. Korruption, Armut und Massenmigration waren lange Zeit – und sind noch immer – an der Tagesordnung. Das Land hat im europäischen Vergleich eine der größten Diaspora. Laut einer Statistik von Eurostat aus dem Jahr 2024 hat Rumänien außerdem nach Bulgarien die meisten Menschen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind. Was Korruption angeht, belegt man den Dritten Platz in der EU. Zudem ist Religion tief verwurzelt in der rumänischen Bevölkerung, insbesondere bei der älteren Generation und im ruralen Raum. Außerdem hat ein Großteil der ländlichen Bevölkerung  nicht mehr als acht Schulklassen absolviert. Somit fühlen sich viele Menschen – aus verschiedensten Gründen –  vom Staat vergessen und haben die Hoffnung auf Besserung verloren. Somit kommt es entweder zur Gleichgültigkeit und man wählt die Person, die die Nachbarin oder der Nachbar wählt. Oder zu Frust und ein Handeln aus Protest, nach dem Motto: „Es wird sich sowieso nichts ändern.“ Diese Menschen fühlten sich durch Simions Rhetorik angesprochen: „gegen das System“ und für christliche Werte und die traditionelle Familie.

Im ersten Wahlgang, der am 4. Mai stattgefunden hat, kam Simion auf 41%. Er und Nicușor Dan, der 21% der Stimmen holen konnte, kamen in die Stichwahl. Nicușor Dan ist Mathematik-Professor und Bürgermeister von Bukarest und kann als liberal-konservativ eingestuft werden. Nachdem sich viele Stimmen – vor allem junge Stimmen aus städtischen Regionen – eine Alternative zum rechtspopulistischen Simion gewünscht hatten, ließ sich Nicușor als unabhängiger Kandidat aufstellen. Er versprach mit seinem Wahlprogramm „România Onestă“ (Ehrliches Rumänien) insbesondere konsequent gegen Korruption vorzugehen, das Haushaltsdefizit zu verringern – das höchste in der EU – und die Beziehungen zur Europäischen Union zu stärken.

In welche Richtung wird Rumänien gehen?

Ich werde wahrscheinlich nie wieder dort leben. Ich muss mir keine Gedanken machen, auswandern zu müssen, wenn Simion Präsident wird. Doch so geht es vielen meiner Freund:innen, die Angst haben und keinen anderen Ausweg sehen. Und trotzdem möchte ich, dass es für Rumänien Hoffnung gibt. Für ein Land mit einer beeindruckenden Kultur, Natur und Geschichte. Und für die Menschen dort, die leider Spielbälle von Machtspielen waren.

Ich schlafe ein, während ich mir den Live-Stream eines rumänischen Senders anschaue. Am nächsten Morgen wache ich auf zu einer EIL-Benachrichtigung von der SZ. Ich atme erleichtert auf: Nicușor Dan hat gewonnen. Mit einer historischen Wahlbeteiligung von fast 65% hat er den Sieg geholt und ist nun Präsident. Wie er selbst in seiner Rede sagte, während die Stimmzettel noch ausgezählt wurden: Es wird nicht einfach sein. Bereits einen Tag nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses teilte Wahlverlierer George Simion mit, er wolle das Ergebnis nicht anerkennen, da er „unwiderlegbare Beweise“ habe, dass sich unter anderem Frankreich und Moldau in die Wahl eingemischt hätten.

In fast schon trumpesker Manier versucht Simion, die Mobilisierung von 6.168.642 Menschen für Demokratie und für die Europäische Union, zu unterdrücken. Es stimmt, es wird nicht einfach sein. Aber an diesem Montagmorgen habe ich Hoffnung für mein Land.


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