Flöten, Götter und Hard Rock

von am 27.04.2023

Jethro Tull ist ein Phänomen. Die 1967 gegründete Band bestimmte den progressiven Sound der frühen 70er maßgeblich mit, insbesondere durch die einzigartige Kombination aus hartem Folk-Rock und dem virtuosen Flötenspiel ihres Frontmans und spiritus rector Ian Anderson. Nach 19-jähriger Pause und kurzzeitiger Auflösung erschien Anfang 2022 mit The Zealot Gene ein beeindruckendes Comeback-Album. Jetzt legen die Musiker mit RökFlöte nach.

von Leo Greinwald

Eigentlich könnte sich Ian Anderson zur Ruhe setzen. In seiner seit über 50 Jahren andauernden Karriere hat er als treibende Kraft und einziges konstantes Mitglied seiner Band Jethro Tull alles erreicht, was man als Rockmusiker erreichen kann: Aus seiner Feder stammen Kult-Songs, wie der Welthit Locomotive Breath und legendäre Alben, unter anderem das nur aus einem einzigen, 43-minütigen Stück bestehende Thick As A Brick. Mit rockig gespielter Querflöte sowie einer häufig wechselnden Schar von äußerst fähigen Musikern schuf er Ende der 60er einen revolutionären Musikstil. Doch ans Aufhören denkt er trotz seiner 75 Jahre noch lange nicht: Nach einigen Jahren, in denen Anderson vor allem solo unterwegs war, veröffentlichte er im Januar 2022 zusammen mit langjährigen musikalischen Weggefährten endlich wieder eine Platte unter dem Namen Jethro Tull. The Zealot Gene stellte die Wiedergeburt einer der innovativsten Bands der Rockgeschichte dar. Nun soll das neue Album RökFlöte diese Geschichte weiterschreiben.

Das Schicksal der Götter

Während The Zealot Gene mit zahlreichen Anspielungen auf die Bibel gespickt war, bedient sich Jethro Tull für das neue Album sowohl textlich als auch musikalisch bei den uralten Sagen und Mythen des nordischen Heidentums. Dies wird schon beim unmelodischen Titel des Albums klar: RökFlöte. Rök (deutsch: „Schicksal“) ist dem Wort Ragnarök entliehen, welches in der nordischen Mythologie den Untergang der Welt beschreibt, Flöte bezieht sich auf Ian Andersons Lieblingsinstrument und das Alleinstellungsmerkmal der Band: die Querflöte.

Auch bei der Musik weht der Wind von der ersten Sekunde an aus skandinavischer Richtung: Voluspo, das erste von insgesamt zwölf Liedern auf dem Album, beginnt mit einer schaurigen Mischung aus dissonant quietschender Flöte, Atemgeräuschen und der unheimlichen Stimme der Sängerin Unnur Birna, welche auf Isländisch aus einem mittelalterlichen Gedicht zitiert. So weit, so seltsam. Nach etwa einer Minute geht die Klangcollage in einen zäh groovenden Folk-Song mit energisch getretener Bassdrum und dumpf dröhnender E-Gitarre über, wobei Ian Anderson beginnt, den Text im Sprechgesang vorzutragen. Schnell wird klar: Die jahrzehntelange Karriere ist an seiner sonoren, warmen Stimme nicht spurlos vorübergegangen, Andersons gesangliche Zurückhaltung offenbart eine gewisse Altersschwäche.

Rock-Flöte

Dafür lässt er die Querflöte für sich sprechen, die als Ian Andersons zweite Stimme fungiert und sich über das ganze Album mal in perfekter Harmonie, mal im gnadenlosen Schlagabtausch mit der Leadgitarre, gespielt von Joe Parrish, befindet. Schon im zweiten Song, Ginnungagap, offenbart Anderson seine ganze Genialität: Ein bedrohliches Gitarren-Crescendo mit anschließenden virtuosen, schnellen Läufen auf der Querflöte führen zur ersten Strophe hin. Dann die Enttäuschung: Der Rest des Liedes ist ein für Jethro-Tull-Verhältnisse belangloser Rocksong, der keinerlei Überraschungen zu bieten hat. Die Lyrics handeln diesmal von der Erschaffung der Welt in germanischer Manier. Nur am Schluss kehrt die Flöte, diesmal untermalt von weicher, melodischer Gitarre, für einen kurzen Gänsehautmoment zurück. Der nächste Track, Allfather, ist mit 2:46 Minuten nur ein Lückenfüller, wenn auch mit einem innovativen, dynamischen Groove, welcher an frühe Tage der Band erinnert. Mit The Feathered Consort, der Titel wohl eine Anspielung auf Odins Raben Hugin und Munin, folgt allerdings einer der besten Songs auf dem Album, ein genialer Querschnitt durch alle Facetten der Band. Den Auftakt bestimmt eine sanfte, sphärische Melodie aus Flöte und Akustikgitarre, dann eine von stimmigen Taktwechseln geprägte Auseinandersetzung zwischen donnerndem Schlagzeug, kristallklarer Querflöte und einem mächtig im Hintergrund wummernden Bass. Sämtliche Bandmitglieder ziehen bei The Feathered Consort alle Register und lassen den Song zu einer Machtdemonstration musikalischen Könnens werden. Das wuchtige Hammer On Hammer dient vor allem als Bühne für Schlagzeuger Scott Hammond und den Gitarristen Joe Parrish. Während Hammond mit Metal-ähnlicher Härte auf sein Drumkit eindrischt, zeigt Parrish sein bestes Solo des Albums, mit irrwitzig schnellen und variantenreichen Arpeggios, die letzten Endes aber nicht ganz an die Virtuosität des früheren Jethro-Tull-Gitarristen, Martin Lancelot Barre, heranreichen. Anschließend dürften einige Hörer verdutzt dreinschauen: Wolfsgeheul läutet Wolf Unchained, den mit 4:58 Minuten längsten Song auf RökFlöte ein. Frenetisch stampfender Heavy Rock trifft auf sakrale Orgelklänge und Ian Andersons gespenstisch-melodische Flötensoli.

Wo bleiben die Hits?

Im Gegensatz zu früheren Tull-Alben, bei denen einige Songs epische Längen von weit über 10 Minuten erreichten, geraten die Songs seit The Zealot Gene sehr viel kürzer und geradliniger. Das ändert leider nichts daran, dass das Album bisher wenige richtige Highlights bereithält. The Perfect One ist ein weiterer solider Folk-Rock-Song, lässt aber die für Jethro Tull so typische Extravaganz vermissen. Wo sind die wilden Takt- und Tempowechsel, wo die scharfen, akzentuierten Riffs eines Martin Barre? Und was ist mit den Texten passiert? Natürlich sind die Erzählungen über skandinavische Götter, Dämonen oder Wölfe interessant und passen gut zum folkigen, archaischen Sound des Albums, aber sie erreichen nicht ansatzweise die Vielschichtigkeit der Lyrics auf früheren Platten wie Aqualung oder A Passion Play, wo in alltäglich anmutende Songtexte feiner Humor und eine gehörige Portion Sozialkritik eingewoben wurden.

Trickster (And The Mistletoe), der achte Song des Albums, bringt nun endlich ein wenig Abwechslung. Ein fast schon tanzbarer Mix aus Akkordeon und Tin Whistle, immer wieder durchbrochen von düsteren Querflöten-Breakdowns, lässt die nordischen Sagen weitestgehend hinter sich. Jethro Tull spielt hier meisterhaft mit Elementen der derben, irischen Tanzmusik, durchsetzt mit einer gewissen Hard-Rock-Note. Daraufhin folgt Cornucopia, der Songtitel bedeutet in etwa „Füllhorn“. Es ist die erste richtige Ballade auf RökFlöte. Die dröhnende E-Gitarre wird auf einmal akustisch, wobei Joe Parrish das Instrument mit bisher ungehörter Sanftheit bespielt und sich dabei mit einer leise fließenden Klaviermelodie abwechselt. Darüber schwebt eine singende Flöte, welche von Ian Andersons brüchigem Gesang kontrastiert wird. Cornucopia erzeugt einen idyllischen Frieden, bevor der darauffolgende Song The Navigators den Hörer mit seinem unheilvoll marschierenden, von Gitarre und Synthesizer dominierten Rhythmus zu entschlossenem Headbanging verleitet.

Das Beste kommt zum Schluss

Kurz vor Ende des Albums findet sich nun doch noch ein Highlight: Der Track Guardian’s Watch erinnert an Jethro Tulls frühe, von englischen Traditionals beeinflusste Alben wie Heavy Horses oder Songs From The Wood. In nur dreieinhalb Minuten brennt die Band hier ein facettenreiches Folk-Feuerwerk ab: Nach einem leisen, barock anmutenden Flöten-Intro bricht die erste Strophe urplötzlich als epischer Hard-Rock-Groove hervor. Anderson erzählt vom Untergang der nordischen Götterwelt, während im Hintergrund ein Gewitter aus verzerrten Gitarren und laut schepperndem Schlagwerk tobt. Zur weiten Strophe treten Bläser hinzu, die dem Song eine gewaltige, orchestrale Note verleihen. Nach gut zweieinhalb Minuten verebbt der Sturm schlagartig: die klassisch angehauchte Flötenmelodie kehrt zurück, diesmal untermalt vom kaskadierenden Rhythmus einer Akustikgitarre. So leitet Guardian’s Watch den letzten Song des Albums ein: Ithavoll, ein von sirrenden Synthesizern beherrschtes Lied, in dem Ian Anderson der isländischen Sängerin Unnur Birna komplett den Vortritt lässt. Hier beendet sie ihre Erzählung und bringt das Album zu einem runden Abschluss.

Überschattet von Giganten

RökFlöte ist beileibe kein schlechtes Album. Frontman Ian Anderson hat bei der Bandbesetzung ein glückliches Händchen bewiesen und schafft es größtenteils, seine in die Jahre gekommene Stimme durch grandioses Flötenspiel zu kaschieren, welches mit zunehmendem Alter nur noch virtuoser zu werden scheint. Die zwölf Songs sind eingängig, radiotauglich und vereinen mit ihrer Mischung aus Hard Rock, Folk und Weltmusik die wichtigsten Jethro-Tull-Credentials. Einige Hardcore-Fans dürften allerdings enttäuscht sein: Zu gleich klingen die einzelnen Lieder, zu konventionell ist Ian Anderssons Songwriting. Die Texte versuchen, mystisch-eloquent zu wirken, bewegen sich aber an vielen Stellen an der Grenze zur Belanglosigkeit, vor allem für Hörer, die wenig für skandinavische Mythologie übrighaben. Während der über 50-jährigen Bandgeschichte veröffentlichte Jethro Tull viele Rockalben, die aufgrund ihrer gewagten Innovation als Klassiker des Genres gelten. Dazwischen geht RökFlöte ein wenig unter. Andere Rockbands würden sich rühmen, eine Platte dieses Kalibers zu veröffentlichen. In der Jethro-Tull-Diskografie jedoch steht das Album im Schatten von Giganten wie Stand Up oder Aqualung. Wer dennoch Lust auf soliden Folk-Rock hat, kann das Album bestellen oder auf allen großen Streamingplattformen hören. Außerdem geht Jethro Tull auf Tour, Ende des Jahres stehen auch einige Termine in Deutschland an.

Bewertung: 3,5/5


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