von Leo Greinwald

Aus München für ein Wochenende bis nach Hannover zu fahren, braucht einen guten Grund. Wenn jedoch TOOL, ihres Zeichens die mysteriöseste Rockband der Welt, zum ersten Mal nach 15 Jahren wieder auf Europatour geht und diese in der ZAG Arena eröffnet, bleibt dem geneigten Hörer nichts anderes, als die Reise im überfüllten ICE auf sich zu nehmen. Dafür wird er, sowie 9000 weitere TOOL-Enthusiasten mit einem audiovisuellen Erlebnis von so urgewaltiger Schönheit belohnt, dass weitaus bekanntere Künstler dagegen wie eine Einstiegsdroge wirken.

TOOL kennt keine Konventionen. Die Gruppe um Maynard James Keenan (Gesang), Danny Carey (Drums), Adam Jones (Gitarre, Synthesizer) und Justin Chancellor (Bass) lehrt andere Metal-Acts mit virtuoser Spieltechnik und abgründigen, ausufernden Werken seit ihrer Gründung 1990 das Fürchten. Während die ersten EPs und Alben noch als konventioneller Alternative Metal eingeordnet werden können, schuf TOOL spätestens mit ihrem Album Ænima (1996) ihren eigenen Stil, einen dunklen und zutiefst bösartigen Progressive Rock, getragen von enorm komplexen Rhythmen und monströsen Gitarrenriffs. Die Band kultiviert ihr Image als musikalisch brillante Schattengestalten durch ihr öffentliches Auftreten. Interviews? Selten. Veröffentlichungen? Zwischen neuen Alben können auch gerne mal 13 Jahre liegen. Konzerte? Häufig, aber nur in den USA. Die letzten Auftritte in Europa liegen mit Ausnahme kurzer Festival-Gigs mittlerweile 15 Jahre zurück. Mit entsprechender Hochspannung wurde die EU Tour 2024 erwartet, die am 25. Mai in der ZAG Arena in Hannover ihren Anfang nahm.

Schattengestalten

Auch bei Liveauftritten zeigt sich TOOL unkonventionell. Die Arena ist komplett bestuhlt und wer meint, er könnte filmen oder Fotos machen, wird umgehend von der patrouillierenden Security aus dem Saal geworfen. Eröffnet wird der Abend von Night Verses, einer kalifornischen Instrumental-Metal-Band, die sich stilistisch bei TOOL wohl einiges abgeguckt hat. So genau ist das aber nicht festzustellen, denn weiter hinten im Innenraum kommt nur wahnsinnig lauter Akustik-Brei an. Doch die Tontechniker legen sich mächtig ins Zeug, als das eigentliche Konzert beginnt, ist der Sound perfekt und bis in den letzten Winkel der Arena kristallklar wahrnehmbar. Das Herzstück der bis ins letzte Detail durchchoreographierten Show bildet Danny Carey’s riesiges Doublebass-Drumkit. Es wird flankiert von zwei Plattformen für Sänger Maynard James Keenan, der während des gesamten Konzerts kein einziges Mal von der gewaltigen Strobe-Light-Installation angestrahlt wird. Er bleibt lediglich ein Schatten mit hoch aufgetürmter Irokesenfrisur vor einer raumhohen Videoleinwand, auf der sich während der Show Animationen von perfekt symmetrischen Vulkanausbrüchen, farbenfrohen riesigen Augen und grausam entstellten Gesichtern bewegen. Musik und Bild in totaler Harmonie: mal zerbrechlich schön, mal unheimlich und verstörend.

Akustik-Inferno

Circa eine halbe Stunde nach der Vorband erlischt das Licht in der Arena, dumpfe Herzschläge kündigen den Haupt-Act an. TOOL betritt die Bühne. Mit Jambi eröffnet die Band ihre Show. Justin Chancellors Bassline geht durch Mark und Bein, während Danny Carey den Zuhörern im 9/8-Takt die Luft aus den Lungen drischt. Die Fans reißt es reihenweise von den Sitzen, das gesamte Konzert wird im Stehen verbracht. Als der Song unter frenetischem Jubel verklingt, passiert etwas für TOOL-Verhältnisse sehr Seltenes: Maynard spricht zum Publikum. Er begrüßt alle mit einem „Hallo“ und bemängelt seine Deutschkenntnisse. Nun geht der Abend richtig los: Nach dem sphärischen Fear Inoculum erklingt, inklusive bedrohlichem Intro, das mächtig stampfende Rosetta Stoned. Anschließend spielt TOOL der Fan-Liebling Pneuma. Über seine knapp zwölf Minuten Laufzeit ist der Song als gewaltiges Crescendo angelegt, beginnend mit sanften Gitarrenklängen, gefolgt von einem ausgedehnten Synthesizer-Part, mit dem Adam Jones Erinnerungen an den Progressive Rock der 70er aufkeimen lässt. Nach knapp neun Minuten folgt die Eruption: schlagartig wird die Arena in gleißendes Licht getaucht und ein Gitarrenriff von geradezu übernatürlicher Brachialität lässt die gesamte Halle ehrfürchtig erbeben. Pneuma ist eines der Highlights des Abends und, wenn man die Reaktionen der Fans beobachtet, wahrscheinlich für viele der Hauptgrund, warum sie gekommen sind. Mit Intolerance von TOOL’s Debutalbum Undertow (1993) nimmt die Band nun wieder etwas Tempo raus, begeistert aber hiermit vor allem die Fans der ersten Stunde. Danach erklingt Descending, ein weites Lied des neuesten TOOL-Albums Fear Inoculum (2019), das einen beträchtlichen Teil der Setlist ausmacht. Der Song, welcher eine bitterböse Kritik an der Oberflächlichkeit der heutigen Gesellschaft darstellt, beschließt die erste Hälfte des Abends. Anschließend erscheint ein Timer auf der Leinwand: zwölf Minuten Pause.

Schwermetall

Nach Ablauf des Timers leitet Danny Carey mit einem mächtigen Gongschlag den zweiten Teil des Abends ein. Mit The Grudge folgt nun ein Live-Klassiker. Carey, Chancellor und Jones peitschen mit gnadenloser Härte durch den Track, während Sänger Keenan in einem diabolischen Wechselspiel mal sanft flüstert, mal wütend brüllt. Nach dem Song bleibt Danny Carey allein auf der Bühne zurück. Eine Bühnentechnikerin hängt dem Drummer eine Kamera um, deren Video nun live auf die Leinwand übertragen wird. Die Zuhörer können mitverfolgen, wie Carey eine atmosphärische, repetitive Melodie auf einem riesigen modularen Synthesizer live programmiert, bevor er dazu eine Version des enorm anspruchsvollen Drum-Tracks Chocolate Chip Trip präsentiert. Der Rolling Stone listet Danny Carey auf Platz 25 der besten Schlagzeuger aller Zeiten. Bei dieser meisterhaften Darbietung bleibt nur die Frage, warum er nicht weiter vorne liegt. Nun kehren die auch anderen TOOL-Mitglieder auf die Bühne zurück. Mit Flood erkling ein weiteres Frühwerk der Band, bevor sich die Band-Mitglieder mit Invincible ein wenig selbst auf die Schippe nehmen. Der Song, welcher davon handelt, dass die strahlenden Metal-Krieger von einst langsam älter werden und sich erste Kratzer in ihren Rüstungen zeigen, stellt den vorletzten Song des Abends dar. Dann Stille, die Bühne ist in rotes Licht getaucht. Sänger Maynard James Keenan richtet noch einmal ein paar Worte an das Publikum: Danke, ihr wart ein tolles Publikum. Und: „You may now take your stupid cell phones out and film this last song.” Nur wenige zücken tatsächlich ihre Handys. Viel zu konzentriert sind die Zuhörer auf das nun erklingende Stück: Stinkfist, möglicherweise TOOL’s größter Hit. Noch einmal geben die vier alles, noch einmal feiern die Fans das sich vor ihnen entfaltende Inferno. Ohne Zugabe, dafür mit endlosem Jubel endet das erste Konzert von TOOL’s Europatour.

Bei den ersten Konzerten einer Tour steht immer die Frage im Raum, ob die Band denn schon perfekt eingespielt ist. TOOL räumen jegliche Zweifel von der ersten Sekunde an aus und zementieren ihren Ruf als Titanen der Livemusik. Auch wenn das öffentliche Auftreten der Bandmitglieder bisweilen obskur sein mag, ist ihre musikalische Darbietung nahe an der Perfektion. Mal leise und drohend, mal infernalisch laut, aber immer mit enormer Virtuosität versetzen TOOL ihre Fans auch nach über 30 Jahren in Ekstase. In der ZAG Arena fügen sich Bild und Ton zu einem brillanten, monströsen Gesamtkunstwerk. Wer jetzt Lust auf ein Konzert bekommen hat: TOOL kommt noch zwei Mal nach Deutschland. Am 08.06. nach Berlin und am 18.06. nach Köln. Es gibt noch wenige Restkarten.

Setlist:

  • Jambi
  • Fear Inoculum
  • Rosetta Stoned [inkl. Intro: Lost Keys (Blame Hofman)]
  • Pneuma
  • Intolerance
  • Descending
  • The Grudge
  • Chocolate Chip Trip
  • Flood
  • Invincible
  • (-) Ions
  • Stinkfist

Link zur Setlist auf Spotify: https://open.spotify.com/playlist/0zENYEzdheteFW5TQfrV9N?si=56d7a5522e1d4cca


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