Musikfans auf der ganzen Welt halten den Atem an: die unangefochtenen Könige des Rock’n’Roll, The Rolling Stones, veröffentlichen mit Hackney Diamonds zum ersten Mal seit 2005 wieder ein Album mit eigenem Material. Dafür hat die Band um Mick Jagger, Ronnie Wood und Keith Richards ihren bewährten Sound noch einmal mächtig aufgefrischt und einige berühmte Musikerfreunde mit ins Boot geholt. Das Ergebnis ist die wahrscheinlich beste Stones-Platte seit Jahrzehnten.  

von Leo Greinwald 

Dabei war die Geburt des Albums alles andere als einfach, nicht nur weil Charlie Watts, seit 1963 Drummer der Band, im August 2021 starb. Keith Richards musste sein Gitarrenspiel wegen Arthritis grundlegend anpassen und Mick Jagger fehlte einfach die Lust, neue Musik zu produzieren, zumal die Resultate der Aufnahmesessions 2021 eher bescheiden gewesen waren. „Keith und ich sagten: ‚also müssen wir härter arbeiten und eine Deadline setzen.‘ Und dann begann die Magie“, so Jagger im Interview mit El País Mitte Oktober.[1]

Rock’n’Roll-Magic

Für alle Fans begann die Magie bereits am 6. September, als mit Angry die erste Single des Albums ausgekoppelt wurde, die gleichzeitig den Opener des Albums darstellt. Dieser Song ist Stones pur: Staubtrockene Riffs, Mick Jaggers wütendes Reibeisen-Gebrüll, dreckige Soli von Keith Richards. Mit Get Close, einem bluesigen, ungemein sexy klingenden Lovesong mit groovendem Saxophon und Klavierspiel von Elton John geht es gleich genauso rasant weiter. Danach braucht der zu diesem Zeitpunkt bereits ekstatisch hüpfende Hörer erstmal ein Wellnessprogramm. Dieses kommt in Gestalt von Depending On You, einer ruhigen und dennoch kraftvollen Ballade, die auf Konzerten großes Mitsing-Potenzial entfalten dürfte.

Den nächsten Stargast bekommt man auf der zornigen Hardrock-Nummer Bite My Head Off zu hören. Die verzerrt-rotzige Bassline, welche den ganzen Song dominiert, stammt von keinem Geringeren als Beatles-Bassist Paul McCartney, der zu den Aufnahmesessions gleich noch den neuen Produzenten Andrew Watt mitbrachte und so für frischen Wind in der Entstehung von Hackney Diamonds sorgte. Diese geschichtsträchtige Rockstar-Kollaboration funktioniert extrem gut, insbesondere im Mittelteil des Songs, als von Mick Jagger ein euphorisches „Come on Paul, let’s hear something!“ zu hören ist.

Mit Whole Wide World folgt ein scharf geschnittener Rocker mit exzellenter Gitarrenarbeit von Keith Richards (seine Arthritis scheint völlig vergessen), bevor die Akustikballade Dreamy Skies eine blues-getränkte Ruhe einkehren lässt. Der Sound erinnert ein wenig an den Stones-Megahit Wild Horses von 1971. Mess It Up und Live By The Sword sind zwei grundsolide, wenn auch nicht außergewöhnliche Radiohits, wobei letzterer vor allem durch Elton John’s Boogie-haftes Klavierspiel gekennzeichnet ist. Da kommen bei Fans unweigerlich Erinnerungen an Stones-Gründungsmitglied Ian „Stu“ Stewart hoch, dessen Spielstil am Klavier viele Songs der Band prägte.

Farewell, Charlie

In Driving Me Too Hard verarbeitet Mick Jagger die Wirren einer turbulenten Beziehung, begleitet von einer ungewöhnlich weichen, singenden E-Gitarre und Ronnie Wood’s kräftig wummernden Bass, bevor Gitarrist Keith Richards für die kurze Ballade Tell Me Straight den Gesang übernimmt. Ein wenig wehmütig fragt er sich, wie lang das Leben so noch weitergehen kann. Man könnte den Song fast als einen Abschiedsgruß für den langjährigen Weggefährten Charlie Watts interpretieren. Dem Hörer ist es hier auf jeden Fall gestattet, eine kleine Träne zu verdrücken.

Nun folgt mit Sweet Sounds Of Heaven, der zweiten Singleauskopplung, jedoch das unumstrittene Highlight des Albums. Eine pompöse, hinreißende Mischung aus Blues und Soul, bei der sich Jagger als Unterstützung Lady Gaga ans Mikrofon geholt hat. Über siebeneinhalb Minuten liefern sich die beiden Weltklasse-Sänger einen handfesten Zweikampf, der mit stimmlichen Höchstleistungen ausgefochten wird. Spätestens nach der Hälfte des Songs wird das Duett endgültig zum Duell. Mick Jagger hat trotz seiner 80 Jahre kein bisschen an Volumen verloren, während Lady Gaga sich kraftvoll in schwindelerregende Höhen erhebt und dabei fast ein wenig an Merry Clayton erinnert, die 1969 die legendäre zweite Stimme in Gimme Shelter einsang. Im Hintergrund sorgt Stevie Wonder am Keyboard für mächtig Emotion. Nach vielen Jahren ist den Stones hier wieder ein Song gelungen, an den man sich noch Generationen später erinnern wird.

Die Steine rollen seit 1962

Der zwölfte und letzte Song des Albums ist gleichzeitig der Namenspatron der Band: Rolling Stone Blues, ein Cover der Blues-Legende Muddy Waters aus dem Jahre 1950, lässt Jagger und Richards tief in die Anfangstage der Rolling Stones eintauchen. Nur mit Westerngitarre und Mundharmonika performen sie das legendäre Lied, nach dem Gitarrist und Stones-Mitbegründer Brian Jones 1962 die brandneue Musikgruppe benannte. Auch Hörer, die noch nicht so lange dabei sind, dürften angesichts dieser Darbietung Gänsehaut bekommen, wobei das Album so zu einem mehr als würdigen Abschluss kommt.

Hackney Diamonds präsentiert die Rolling Stones 48 Minuten lang in absoluter Bestform. Die Platte hat alles zu bieten, von hämmernden Rocksongs bis hin zu unerwartet gefühlvollen Momenten und einer Liste von Features, die sich gewaschen hat. Das Album wirkt zu keinem Zeitpunkt angestaubt oder gar altbacken, was auch Andrew Watt’s äußerst moderner Produktion geschuldet ist. Die Gruppe blüht nach mittlerweile 60 Jahren Bandgeschichte noch einmal richtig auf, insbesondere der in den ersten Sessions so lustlose Mick Jagger sprüht vor Energie und auch Ronnie Wood und Keith Richards ist anzumerken, dass sie noch viele Jahre Musik machen wollen. Was The Rolling Stones hier geschaffen haben, ist ihre eindrucksvollste Arbeit seit Langem. Der Enthusiasmus der Band schlägt natürlich auch auf die Fans über, die sich wahrscheinlich nicht mehr allzu lange auf Nachschub gedulden müssen. Mick Jagger ließ bereits verlauten, dass genügend Material für ein Nachfolgealbum aufgenommen wurde und dieses bereits zu etwa drei Vierteln fertiggestellt ist. Wir sind gespannt.

Bewertung: 5/5

[1] Carlos Marcos in El País English: “Mick Jagger: ‘To be honest, I’d rather be thirty’”, 17.10.2023, Mick Jagger: ‘To be honest, I’d rather be 30′ | Culture | EL PAÍS English (elpais.com) (Zugriff am 20.10.2023)


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