Prog isn’t dead
von Campus Crew Redaktion am 02.06.2023
Seit 1968 steht eine Band wie kaum eine andere für Progressive Rock: Yes. Alben wie Close To The Edge und Fragile begeistern Fans bis heute mit ihrem grenzenlos innovativen, äußerst komplexen und ein wenig verrückten Sound. Musik so wechselvoll wie die Geschichte der Band, welche vor allem durch häufige Änderungen der Besetzung gekennzeichnet ist. Ende Mai erschien mit Mirror To The Sky endlich ein neues Album der britischen Prog-Giganten.
von Leo Greinwald
Die letzten Jahre waren zweifelsohne nicht leicht für Yes. Ihr 2021 erschienenes Album The Quest war zwar nicht schlecht, erwies sich allerdings als arg konventionelles Rockalbum, welches dem progressiven Anspruch der Band nicht völlig gerecht wurde. Und dann starb 2022 auch noch der langjährige Yes-Schlagzeuger Alan White. Das neue Album ist ihm gewidmet, an seinem Platz sitzt jetzt US-Amerikaner Jay Schellen, der die Band bereits seit 2016 auf Tourneen begleitet und jetzt erstmals sein Können auf einem Studioalbum zeigt.
Space-Rock
Mirror To The Sky beinhaltet neun Songs, bei einer Gesamtdauer von gut einer Stunde. Schnell wird klar: Das Album will zum komplexen, avantgardistischen Sound zurückkehren, der Yes Anfang der 70er zu Rock-Ruhm verhalf, und dabei dennoch frisch und zeitgemäß wirken. Überlange, epische Stücke wechseln sich mit radiofreundlicheren, eingängigeren Tracks ab. Die Texte und Klänge auf Mirror To The Sky sind sehr Weltraum-inspiriert, wie schon der tiefblaue Sternenhimmel auf dem Albumcover vermuten lässt. Mit spacig-rhythmischem Bass und sirrenden Synthesizern bildet der erste Track des Albums, Cut From The Stars, einen phänomenalen Auftakt. Sofort wähnt sich der Hörer auf einem Flug durch den Orbit, der das ganze Album andauert. Daraufhin folgt All Connected, ein von anspruchsvollen Taktwechseln und sphärischen Klängen geprägtes Stück, welches über seine neun Minuten Laufzeit leider ein wenig konturlos wirkt. Anschließend kommt mit Luminosity allerdings eines der Highlights des Albums: Ein ruhiger und dennoch epischer Song, auf dem vor allem die hohe, glasklare Stimme von Sänger Jon Davison heraussticht. Das Lied, welches von Erleuchtung und außerirdischem Leben handelt, endet mit einem fantastischen Solo des Yes-Gitarristen Steve Howe.
Ein episches Fest für alle Yes-Fans
Mit Living Out Their Dream folgt ein radiotauglicher Lückenfüller vor dem gewaltigen Titelstück Mirror To The Sky, welches mit 13:54 Minuten den längsten Track des Albums darstellt. Dieser Song ist Progressive Rock in seiner reinsten und schönsten Form. Komplex, dynamisch und aufwendig mit Orchester arrangiert, bildet Mirror To The Sky den Höhepunkt des ganzen Albums. Billy Sherwoods frenetisch groovender Bass leitet das extrem vielschichtige Lied ein. Rhythmusbetonte, rockige Parts wechseln sich ab mit ruhigen, von Akustikgitarre und klassischem Klavier dominierten Abschnitten, ehe es zum bombastischen, orchestralen Finale kommt. Mirror To The Sky ist nicht nur ein atemberaubendes Prog-Stück, sondern auch eine Hommage an die grandiosen Yes-Epen der frühen 70er, wie Heart Of The Sunrise oder And You And I. Eingefleischte Fans kommen spätestens bei diesem Song voll auf ihre Kosten.
Würdiges Finale
Wie schon auf früheren Alben der Band gibt es auch auf Mirror To The Sky ein komplett akustisches Lied, welches nach dem monströsen Titelstück eine willkommene Verschnaufpause bildet. Circles Of Time ist eine ruhige, angenehm reduzierte Ballade, auf der Steve Howe und Jon Davison, nur von einigen Geigen begleitet, die Vergänglichkeit der Zeit besingen.
Den Schluss des Albums bilden drei Songs, welche in analoger Form auf einer Bonus Disc beiliegen, wobei vor allem Unknown Place erwähnenswert ist. E-Gitarre und Bass peitschen durch die ersten fünf Minuten mit beinahe Hard-Rock-ähnlicher Energie, ehe Geoff Downes‘ Hammond-Orgel eine sakrale, feierliche Note hinzufügt, die den Song ruhig auslaufen lässt. Die letzten beiden Tracks auf Mirror In The Sky sind weniger progressiv, sondern erinnern eher an den eingängigeren Adult-Oriented-Rock, an dem sich Yes vor allem in den 80ern versuchte. One Second Is Enough ist ein kurzer, auf Charterfolge programmierter Stimmungsmacher, während Magic Potion vor allem durch sein pathetisches Gitarren-Outro auffällt, welches das Album zu einem runden Abschluss bringt.
To be continued
Mit Mirror To The Sky ist Yes wieder ein großer Wurf gelungen. Die Songs klingen geschliffen und modern, dennoch besitzt das Album eine wunderbare Nostalgie, die an frühe Werke der Band erinnert, ohne sie dabei zu imitieren. Insbesondere das Titellied ist ein Meisterwerk, welches jedem Vergleich mit früheren Yes-Longtracks standhält, zumal es weitaus melodischer daherkommt als die teilweise extrem psychedelischen Ergüsse der 70er Jahre. Die kurzen Titel mögen zwar konventioneller klingen, sind allerdings technisch ebenfalls brillant umgesetzt und machen die Platte sehr gut in einem Stück hörbar. Trotz der aufwändigen Arrangements ist der Zuhörer nach einer Stunde Yes kein bisschen ausgelaugt, sondern hat Lust auf mehr. Die Band zeigt hier eindrucksvoll, dass ein so außergewöhnliches Genre wie Progressive Rock auch heute noch hervorragend funktioniert – und das nicht nur, nachdem der Yes-Song Roundabout durch den Anime Jojo’s Adventure zu einem globalen Meme wurde.
Bewertung: 4,5/5